Man looks at Augmented Reality Glass Wafer from SCHOTT

Auf dem Sprung in eine neue Realität

Die Tech-Branche ist auf der Suche nach dem nächsten großen Ding. So feiern faltbare Smartphones mit biegsamen Bildschirmen derzeit ihr "Comeback" mit steigenden Verkaufszahlen – und auch Wearables befinden sich im Aufschwung. Ein potenzieller Milliardenmarkt sind smarte Brillen, die durch den Mix von Real- und Digitalbildern eine erweiterte (Augmented Reality, AR) oder vermischte Realität (Mixed Reality, MR) ermöglichen. Wir beleuchten in diesem Artikel, wohin sich die Branche und all ihre Akteure derzeit bewegen und warum das Material Glas eine ganz wesentliche Rolle für den Erfolg der Technologie einnimmt.

Michael Mueller, Head of Innovation Communication & Storytelling at SCHOTT

Von Michael Müller

11 min read

AR/MR: Eine aufstrebende Hightech-Industrie

Nach frühen Innovatoren im Bereich AR/MR wie Microsoft hat sich die Zahl der großen Marken und der mit Risikokapital finanzierten Unternehmen, die in Forschung und Entwicklung investieren, in den letzten Jahren spürbar weiterentwickelt. Erste Endgeräte wie RayBan Stories oder die auf Entwickler ausgerichtete Snap Spectacles wurden bereits der Öffentlichkeit vorgestellt und bieten einen ersten Einblick in die Anwendungen und Möglichkeiten, die in Zukunft Teil von leistungsfähigeren Geräten sein könnten.

Eine Gemeinsamkeit künftiger Mixed-Reality-Technologien ist die Fähigkeit, digitale Informationen über Lichtwellen zu leiten und diese virtuellen Inhalte mit dem natürlichen Blick des Nutzers zu verschmelzen. Um eine reibungslose Mischung aus digitalen und realen Inhalten zu erreichen, werden Wellenleiter (engl. waveguides) benötigt, die die in Wellen übersetzten Bits & Bytes direkt in die Augen der Nutzer leiten. Hier spielt optisches Glas als Trägermaterial eine entscheidende Rolle: Dank seiner optischen und physikalischen Eigenschaften ist es im Vergleich zu anderen Materialien leistungsfähiger und hochwertiger.

 

Schlüsselfaktoren für einen AR/MR-Durchbruch

"Um ein breiteres Interesse bei einer technikaffinen Zielgruppe zu wecken, müssen die Geräte ein immersives Erlebnis mit einem großen Sichtfeld bieten und gleichzeitig bequem zu tragen sein", sagt Matthias Jotz, Head of Product Management für Augmented Reality bei SCHOTT. "Darüber hinaus braucht es eine gestochen scharfe Bildqualität sowie eine lange Akkulaufzeit, die auch bei einer Verbindung mit 5G-Netzwerken problemlos mehrere Stunden durchhält."

Brechungsindex & Abbe-Diagramm

In der Optik ist der Brechungsindex eines optischen Mediums eine dimensionslose Zahl, die das Lichtbeugungsvermögen des Mediums angibt. Der Brechungsindex bestimmt, wie stark der Weg des Lichts beim Eintritt in ein Material gekrümmt bzw. gebrochen wird. Das Diagramm stellt die Abbe-Zahl gegen den Brechungsindex für eine Reihe verschiedener Gläser dar.

Das Abbe-Diagramm wurde von Ernst Abbe (1840-1905) erfunden, einem deutschen Physiker, der die Carl-Zeiss-Stiftung gründete, die alleinige Aktionärin der Carl Zeiss AG und der SCHOTT AG ist. Die Gläser werden mit dem Identifizierungs-Code des optischen Glaskataloges von SCHOTT klassifiziert, um ihre Zusammensetzung und Position im Diagramm wiederzugeben. Das Abbe-Diagramm endet bei Indexzahlen jenseits von 1,9 und unterstreicht damit die herausragenden optischen Fähigkeiten dieser Gläser.

Abbe Diagramm

Matthias, ein enthusiastischer Mittdreißiger mit einem feinen fränkischen Dialekt, kennt die AR/MR-Branche bestens. Er ist in ständigem Austausch mit den großen Marken und Innovationsfirmen, die Technologien im Zusammenhang mit AR/MR kontinuierlich vorantreiben. Eine seiner Hauptaufgaben ist es, die Lücke zwischen der traditionellen Glasherstellung und der pulsierenden Industrie der Unterhaltungselektronik zu schließen.

"Einige AR-Firmen konzentrieren sich auf ein möglichst immersives Erlebnis mit einem herausragenden Sichtfeld und gestochen scharfen Bildern. Andere große Namen gehen hier Kompromisse ein und konzentrieren sich auf die Gewichtsreduzierung für die beste Tragbarkeit und einen subtilen Look der Smart Glasses", fügt Matthias hinzu.  Er erklärt, dass ein großes Sichtfeld vor allem mit einem hohen Brechungsindex des Waveguide-Materials zusammenhängt. Je höher der Brechungsindex eines optischen Glases ist, desto mehr Metalle oder Seltene Erden werden der Glasformulierung hinzugefügt, was das Produkt schwerer macht. "Normalerweise würde diese Abhängigkeit von einem steigenden Brechungsindex und einem höheren Gewicht einen großen Nachteil für Innovatoren bedeuten, die nach der besten optischen Lösung suchen und gleichzeitig ein schlankes und leichtes Design im Sinn haben", fügt Matthias hinzu. "Unsere Glaswissenschaftler haben sich dieser Herausforderung gestellt und es geschafft, den Brechungsindex über 1,9 zu halten, gleichzeitig das Gewicht zu halbieren und die Planität der Wafer zu verbessern. Ermöglicht wurde dies durch eine völlig neue Glasrezeptur für Augmented Reality, die weniger Schwermetall-Ionen enthält und gleichzeitig die mechanischen Eigenschaften verbessert."

Über Matthias Jotz

Dr. Matthias Jotz studierte Maschinenbau und Elektrotechnik in Berlin und hält einen Master in Internationaler Betriebswirtschaftslehre von der European University in Frankfurt (Oder) und der NEOMA Business School in Reims, Frankreich. Außerdem promovierte er 2021 im Bereich Verfahrenstechnik an der TU Ilmenau. Im Jahr 2013 begann er bei SCHOTT als Anwendungsingenieur in der Verfahrenstechnik und leitete die Entwicklungsaktivitäten für faltbares Glas ( SCHOTT UTG® und Xensation® Flex ). Danach wechselte er ins Produktmanagement und Business Development für das Wafer- und Dünnglasgeschäft von SCHOTT (u.a. FLEXINITY®). Seit Dezember 2020 ist er Leiter des Produktmanagements im Augmented-Reality-Team von SCHOTT.

Dr. Matthias Jotz, Product Manager FLEXINITY®  at SCHOTT

Das Verfahren zur Herstellung von optischem Glas geht zurück auf Otto Schott, den Gründer der Firma SCHOTT, der als Erfinder des Spezialglases gilt. Natürlich hat sich der Prozess der Massenproduktion seit seinen Experimenten in den 1880er Jahren deutlich weiterentwickelt. Und doch sind einige Schritte seither gleich geblieben.

Alles beginnt mit dem Glasgemisch, einer Kombination aus Quarzsand und verschiedenen Metalloxiden. Dieses Gemisch wird erhitzt, bis es bei etwa 1600° Celsius schmilzt. Ein geschmolzenes Glasband entsteht, dass kontrolliert abgekühlt wird. Neben den Inhaltsstoffen und vielen Schmelzparametern wie der genauen Temperatur und dem Sauerstoffgehalt wird die optische Qualität des Glases auch durch den Abkühlungsprozess selbst beeinflusst. Es kann mehrere Wochen dauern, bis die beste optische Qualität erreicht ist.

Die Umwandlung von Sandkörnern in hochbrechende Glaswafer – die Reise

Wann wird ein Glaswafer zum Waveguide?

Das Aufbringen von permanenten optischen Strukturen auf einem Glaswafer, auch in Formaten mit 300 mm Durchmesser, ist ein Schwerpunkt der österreichischen EV Group (EVG). Das in St. Florian am Inn ansässige Unternehmen ist auf die Lieferung von Großserien-Produktionsanlagen und Prozesslösungen für die Herstellung von Halbleitern, MEMS und Nanotechnologie-Bauelementen – wie AR/MR-Waveguides – spezialisiert. Die Nanoimprint-Maschinen von EVG sind dazu in der Lage, Nanostrukturen mit optischen Funktionen auf die Glaswafer aufzubringen, wodurch sie von Wafern zu Wellenleitern oder Waveguides werden.

Zwei Prozessingenieurinnen inspizieren einen AR-Wafer im Laber

Zwei Prozessingenieurinnen inspizieren einen AR-Wafer mit 300 Millimetern Durchmesser, nachdem er von einer EVG HERCULES® NIL Maschine mit den optischen Strukturen versehen wurde. Foto: © EV Group

„Ein Waveguide für Augmented- oder Mixed Reality überträgt Licht von einem Punkt zum anderen. Diese Wellenleiter bestehen aus Nanostrukturen, sogenannten ‚Gratings‘ oder ‚Gittern‘. Diese werden mit unseren Nanoimprint-Lithographie-Werkzeugen präzise auf die Glaswafer aufgebracht“, sagt Andrea Kneidinger, Business Development Manager bei EVG. „Die Strukturen mit speziellen optischen Funktionen ermöglichen es dem Licht, in das Glassubstrat einzutreten und dieses zu verlassen. Dabei wird das Licht durch interne Reflexion im Glas geleitet." Während die optischen Spezifikationen und das Waveguide-Design von den optischen Designern festgelegt werden, ermöglichen die Geräte von EVG die exakte Herstellung und Replikation der Waveguide-Designs auf dem Substrat, fügt Andrea Kneidinger hinzu. Sie fährt fort: „Je nach Größe des Designs kann man mehrere der Waveguides auf die Glassubstrate aufbringen, was anschließend große Skalierungsfaktoren der ursprünglichen Einzeldesigns ermöglicht. "

Um Gitterstrukturen auf die Glassubstrate aufzubringen, benötigt man außerdem ein maßgeschneidertes Harz, das dem Brechungsindex des Glases entspricht. Ein Unternehmen, das ein solches High-End-Harz mit einem Brechungsindex von 1,9 anbietet, ist das finnische Unternehmen Inkron Oy, ein Mitglied der japanischen Nagase-Gruppe.

Hochbrechende Glaswafer: SCHOTT RealView®

SCHOTT RealView® Glaswafer mit einem hohen Brechungsindex sind Schlüsselkomponenten von AR/MR-Headsets der nächsten Generation. Die Glaswafer sind die Basis für die mehrschichtigen RGB-Wellenleiter der Kunden und damit ein wesentlicher Bestandteil der AR/MR-Display-Einheit, die ein immersives Nutzererlebnis ermöglicht. SCHOTT bietet ein breites Produktportfolio mit Brechungsindizes von 1,5 bis 2,0 und darüber hinaus. Die Wafer haben Durchmesser von 100, 150, 200 oder 300 mm.

Hochbrechende Glaswafer: SCHOTT RealView®

Nachdem die EVG NIL-Maschinen die optischen Gitter auf den Glaswafer aufgebracht haben, schneidet ein Laser jedes einzelne Brillenglas aus dem Wafer aus. Je größer der Wafer-Durchmesser ist, desto mehr smarte Brillengläser können pro Wafer ausgeschnitten werden, und desto niedriger sind die Kosten pro Brillenglas. Jeder Gerätehersteller fügt nun eine optische Engine, Batterie usw. hinzu und kombiniert alle Komponenten zu einer AR/MR-Brille.

(1) Der Projektor strahlt die Lichtwellen des digitalen Bildes in Richtung der Waveguides ab.

(2) Die Lichtwellen des Projektors werden mit Hilfe eines Gratings (Gitters) an einer definierten Stelle in den Wellenleiter eingekoppelt.

(3) Lichtwellen jeder Farbe werden n-mal in der definierten Gitterfläche ausgekoppelt. Da jedes menschliche Auge individuell geformt ist, müssen die Lichtwellen n-mal ausgekoppelt werden. (Bei der Waveguide-Technologie werden in der Regel drei Glasscheiben verwendet, von denen jede als Wellenleiter für eine Farbe im Rot-Grün-Blau-Farbraum (RGB) dient. In dieser vereinfachten Darstellung wird nur ein RGB-Bild gezeigt).

(4) Das mobile, bewegliche menschliche Auge nimmt sowohl die digitalen als auch die realen Bilder wahr. So entsteht der Eindruck einer erweiterten Realität.

 

Reflektierende Wellenleiter: die andere Wette der Industrie

Neben den angesprochenen diffraktiven Waveguides, die auf Glaswafern mit hohem Brechungsindex und optischen Gratings beruhen, gibt es eine alternative Technologie, die von der israelischen Firma Lumus entwickelt wurde: reflektierende Wellenleiter. Im Gegensatz zu den diffraktiven Wellenleitern wird bei den reflektiven Wellenleitern eine Kaskade von halbreflektierenden Spiegeln im Inneren des Glases verwendet. Diese Spiegel leiten einen Teil des Lichts aus dem Wellenleiter heraus in die Augen der Nutzer, ohne dass optische Strukturen notwendig sind.

"Reflektierende Waveguides erweitern die Bilder und reflektieren die digitalen Informationen, die vom Projektor kommen, ins Auge der Nutzer", sagt Ari Grobman, CEO von Lumus. Grobman, der in den USA geboren und aufgewachsen ist, zog vor mehr als 20 Jahren nach Israel und arbeitet seit mehr als 15 Jahren bei Lumus. Im Jahr 2017 wurde Grobman zum CEO von Lumus ernannt. Man kann seinen Stolz förmlich spüren, wenn er über die Projekte seines Unternehmens spricht. "Wir befinden uns in ständigen Gesprächen mit den großen Tech-Giganten da draußen und glauben fest an die Massentauglichkeit unserer Technologie", fügt Grobman hinzu.

Aber wie stellt Lumus die speziellen Waveguides her? "Ein reflektierender Waveguide besteht hauptsächlich aus einem sehr reinen optischen Glas, fortschrittlichen Beschichtungen und einigen Verarbeitungsschritten, die wir uns durch Patente gesichert haben. Bei Lumus lizenzieren wir die Technologie an unsere Partner, die für die Skalierung bis zur Massenproduktion verantwortlich sind", so Grobman weiter.

Im Jahr 2020 gingen SCHOTT und Lumus eine strategische Partnerschaft ein, Im Rahmen dieser Partnerschaft übernimmt SCHOTT alle Schritte der Produktion der reflektierenden Waveguides. Von der Herstellung des optischen Glases über alle nachfolgenden Verarbeitungsschritte bis hin zu den fertigen Waveguides und Brillengläsern.

Rüdiger Sprengard, Vice President Augmented Reality bei SCHOTT: "Als Glas-Experten unterstützen wir Innovatoren im Bereich AR und MR an allen Ecken der Liefer- und Herstellungskette". Laut Sprengard werden der Markt, innovative Unternehmen, Software und letztlich die Endverbraucher entscheiden, welche Waveguide-Technologie sich durchsetzen wird.

"Die Quintessenz ist: Letztendlich werden alle wichtigen Schritte, um AR auf den Massenmarkt zu bringen, von einer Schlüsselkomponente angetrieben und ermöglicht: nämlich von Glas. Unser Erbe definiert unser Engagement für die Zukunft, denn wir glauben, dass unsere Vision die Welt voranbringen kann", fügt Sprengard hinzu. Dabei zeigt er auf ein Bild von Marga Faulstich (1915-1998), einer Wissenschaftlerin auf dem Gebiet des optischen Glases und Erfinderin der Schwerflint 64 oder SF64 Linse. Margas Erfindung veränderte das Weltbild der Menschheit und ebnete heutigen Brillen und Sonnenbrillen den Weg. Vielleicht erstrahlt Margas Vision mit Augmented Reality in einem ganz neuen Licht?

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