Man punches the air while climbing a boulder wall

Die Steigerung des Superlativs

Wenn es nicht der Mensch selbst ist, der die Grenzen des Machbaren verschiebt, dann sind es Forschung und Materialentwicklung. Ein Material der Extreme ist ultradünnes, biegbares Glas. Es ist dünner als ein menschliches Haar und ermöglicht schon heute Biegeradien unter einem Millimeter.

Michael Mueller, Head of Innovation Communication & Storytelling at SCHOTT Michael Thiem

Von Michael Müller, Michael Thiem

10 min read

Adam Ondra stellt am 3. September 2017 die Kletterwelt auf den Kopf. In einer Höhle nahe Flatander in Norwegen bewältigt der Tscheche eine extrem überhängende Felsroute. Erschöpft lässt er sich am Ende übermannt von seinen Emotionen ins Seil fallen. Die gesamte Kletterwelt verneigt sich. Der „Meister des Unmöglichen“ hat sich selbst übertroffen. Erstmals hat ein Mensch eine Route mit dem französischen Schwierigkeitsgrad 9c durchklettert. Eine Einstufung, die es bis zu diesem Tag gar nicht gibt. Er selbst schlägt sie anschließend vor. Was Ondra leistete, verschiebt die Grenzen des Machbaren. Ondra nennt die Route „Silence“. Nicht ohne Grund. Normalerweise schreit er am Gipfel seine Freude heraus. Nach dieser superharten Route ist selbst er sprachlos.

Jenseits der Grenzen gibt es keine Regeln. Und auch keine objektiven Bewertungsskalen. Nur Staunen, Respekt und Anerkennung für Leistungen außerhalb der Vorstellungskraft der meisten Menschen. Aber was ist 9c genau? Das sind viele, viele schwere Kletterzüge hintereinander in sehr steilen, teilweise überhängenden Felswänden. Ondra überlistet dabei scheinbar die Schwerkraft und lässt den Betrachter rätselnd zurück. Wie ist so eine Leistung nur möglich? „Was mich wirklich motiviert, immer härter zu klettern, ist nicht unbedingt, dass ich meine Grenzen verschieben will, mich darüber freuen will oder den anderen zeigen möchte, wer der Beste ist“, sagt Ondra in einem Interview mit der Deutschen Welle. „Es ist vielmehr, dass es irgendwie mehr Spaß macht, immer härtere Routen zu klettern. Je schwieriger sie sind, desto interessanter wird das Klettern und desto mehr verrückte Moves musst du dir ausdenken.“

 

Biegen, aber nicht brechen

Ondra muss sich vor allem auf seinen Körper verlassen können. Kondition, Kraft und Technik sind trainierbar. Wer Grenzen systematisch verschieben möchte, nutzt noch andere Stellschrauben. Neue Materialien können Türen öffnen, die zuvor verschlossen sind. In keiner anderen Disziplin der Leichtathletik ist zum Beispiel der Athlet so von seinem Gerät abhängig wie im Stabhochsprung.

Die Stäbe unterscheiden sich in der Länge und im Härtegrad. Biegen, aber nicht brechen ist neben Mut und Vertrauen in das Material der Schlüssel zum Erfolg. Aus Holz wird im Laufe der Jahrzehnte Bambus und Metall, heute springen die Athleten mit High-end-Stäben aus Kohlenstofffasern. Und mit jeder Materialanpassung gehen die Flüge nach oben. Zwischen 1941 und 1961 wird der Rekord bei den Männern von 4,77 auf 4,81 Meter nur um vier Zentimeter verbessert. Mit Stäben aus glasfaserverstärktem Epoxydharz – es ermöglicht eine stärkere Stabbiegung – schnellt die Bestmarke bis 1968 auf 5,41 Meter nach oben. Den aktuellen Rekord springt der Schwede Armand Duplantis am 24. Juli 2022 mit 6,21 Meter. 

Person beim Stabhochsprung bei Nacht.

Die Zusammensetzung der High-tech-Stäbe halten die führenden Hersteller streng geheim. Die Unterschiede liegen in der Wicklung der Glasfaserfäden um den Kunststoffkern. Denn die Richtungsstruktur ist entscheidend. Ziel ist es, möglichst leichte und dünne Stäbe herzustellen. „Wenn man an die Grenzen stößt, merkt man, wie möglich die nächste Stufe ist“, kündigt Duplantis nach dem Rekord bereits neue Höhenflüge an.

Stabhochsprung-Weltrekordhalter Armand Duplantis
Wenn man an die Grenzen stößt, merkt man, wie möglich die nächste Stufe ist.

Das Streben nach Verbesserungen sorgt dafür, dass Grenzen immer nur Momentaufnahmen sind. Denn Grenzen, die man kennt, sind schon überwunden. Ob beim Klettern, Stabhochsprung oder in der Materialentwicklung allgemein. Technologische Innovationen gehen fast immer einher mit Verbesserungen von Werkstoffen. Sie bilden die Basis für das nächste Etappenziel: dünner, leichter, flexibler – also leistungsstärker. In fast allen Bereichen ist die Jagd nach dem Superlativ ein Rundkurs. Wird eine Bestmarke gebrochen, geht das Rennen von vorne los. Zum Beispiel in der internationalen Solarforschungsszene scheint im Moment ein Wettrennen ausgebrochen zu sein: Alle wollen die dünnste, leichteste und flexibelste Zelle entwickeln. Forschern der Universität Stanford ist es gelungen, ultradünne und -leichte Solarzellen herzustellen. Die Zellen sind so zart, dass sie sogar auf tragbaren Geräten, Kleidung oder leichtgewichtigen Flugzeugen eingesetzt werden sollen.

Ein ähnliches Rennen ist im Bereich von flexiblen Displays gestartet. Nachdem Apple 2007 mit dem iPhone das erste Smartphone mit einem von Glas geschützten Display auf den Markt brachte, rückt der Werkstoff in den Blickpunkt vieler Entwickler und Designer. Aktuell ganz besonders im Fokus der Unterhaltungs- und Kommunikationselektronik: ultradünnes, flexibles Glas oder ultra-thin glass, kurz „UTG“. „Wir stellen seit mehr als 30 Jahren ultradünnes Glas her. Auf der Grundlage dieser Erfahrung freuen wir uns sehr, mit diesem atemberaubenden Material die Zukunft von faltbaren Smartphones aktiv mitgestalten zu können“, sagt Dr. Mathias Mydlak, Business Development Manager für UTG Cover bei SCHOTT. Während er seinen Satz beendet, greift er zu einer Schutzbrille, setzt sie auf und zeigt den beeindruckenden Biegeradius eines ultradünnen Glases. „Das UTG lässt sich um meinen Finger rollen, sehen Sie? Das sieht beeindruckend aus, ist aber bei Weitem nicht alles, was es kann. In flexiblen Bildschirmen muss es Biegeradien unter einem Millimeter standhalten. So dünn sind meine Finger gar nicht“, scherzt Mydlak.

Hände biegen ultradünnes, flexibles Glas von SCHOTT

Nicht jedes Glas lässt sich chemisch vorspannen. Der Glastyp ist maßgeblich. Sehr gut geeignet für den chemischen Vorspannprozess ist Aluminosilicatglas.

Mann biegt fasziniert ultradünnes Glas von SCHOTT

Dank chemischer Vorspannung kann ultradünnes Glas Biegeradien von weniger als einem Millimeter standhalten.

Modernste flexible Ultradünngläser überstehen Biegeradien unter einem Millimeter. Das ist imposant, aber nicht das Ende des physikalisch Machbaren.

Die Geschichte der Smartphones

Wer 1994 ein Smartphone nutzen will, benötigt kräftige Arme. Der IBM Simon leitet eine neue Ära ein. Er wiegt aber mehr als ein halbes Kilogramm, hat eine Display-Auflösung von 160 x 293 Pixel und 1 MB Speicher. Mit diesem Gerät ist erstmals die Installation von Apps sowie der E-Mail-Versand möglich. Zum Vergleich: Das Samsung Galaxy S20 (2020) wiegt 163 Gramm und verfügt über eine Auflösung von 1.440 x 3.200 Pixel. 2019 bringt Samsung mit dem Galaxy Fold das erste Smartphone mit faltbarem Display auf den Markt, zwei Jahre später folgt das Samsung Galaxy Z Flip. Es wird weltweit rund 13,6 Millionen Mal verkauft.

Frau die ein faltbares Smartphone nutzt

Ein Millimeter. Das ist beeindruckend. Zum Vergleich: ein Streichholz weist in der Regel einen quadratischen Querschnitt mit einer Seitenlänge von einem Millimeter auf. Erst die Möglichkeit, ultradünnes Glas mit einem Biegeradius kleiner als einem Millimeter und dünner als menschliches Haar herzustellen, regte die Fantasie der Smartphone-Hersteller zur Entwicklung faltbarer Geräte mit Glas in der Displayeinheit an. Um Glas, egal welcher Dicke, stark biegen zu können, ist ein chemisches Verfestigungsverfahren notwendig. Die ultradünnen Gläser von SCHOTT sind genau dazu in der Lage.

Der Spezialglashersteller greift dabei auf sein Know-how aus dem Coverglas-Bereich zurück. Ein kurzer Exkurs: Schon seit 2010 ist SCHOTT mit seinem Coverglas im Smartphone-Markt vertreten und war der erste Glasmacher, der ein Lithium-Aluminosilicatglas entwickelte, den heutigen Standard-Typ für Covergläser. „Faltbare Displays sind eine sanfte Revolution des Smartphone-Markts“, sagt Mydlak. Man habe als technischer Lieferant von Speziallösungen sehr intensiv mit den Kunden zusammengearbeitet und jeweils angepasste Lösungen entwickelt. Ein entscheidender Vorteil sei das vielschichtige Know-how im Unternehmen. Bereits seit den 1990er-Jahren stelle das Unternehmen verschiedenste ultradünne Gläser im Down-Draw-Verfahren her. Bei kontinuierlicher Weiterentwicklung wurde im Labor bereits eine ultradünne Glasdicke von 16 μm erreicht. Zum Vergleich: ein rotes Blutkörperchen ist 8 μm dick!

 

300.000 Faltungen, Tendenz steigend

Und wie wird das Glas nicht nur dünn, sondern auch flexibel? Die Lösung ist simpel – und doch so herausfordernd. „Wenn man ein starres, festes Material hat, muss man es im Grunde nur extrem dünn machen, damit es flexibel wird“, sagt Mydlak. Hört sich einfach an, ist in der Praxis aber oft so schwer. Wie es geht, zeigt das Beispiel Aluminium. Dünn ausgerollt – beispielsweise als Alufolie – ist das Metall extrem formbar. Ähnlich ist es bei Spezialglas. Die wichtigsten Bestandteile sind Siliziumoxid, Aluminium und Metallionen. Was dann noch dazukommt, ist geheim. „Unser ganz spezieller, magischer Staub“, sagt Mydlak und schmunzelt. Den Rest besorgt das UTG-Verfahren.

Aber die Glasdicke ist längst nicht das einzige, das zählt. Dünneres UTG als jetzt wird für Display-Anwendungen wohl nicht benötigt. Eigenschaften wie Flexibilität und Robustheit rücken dagegen in den Fokus. Um sie trotz begrenzter Materialdicke möglichst flexibel und robust zu machen, liegt der Schlüssel hier in der Materialzusammensetzung und dem chemischen Verfestigungsprozess.

Faltbare Displays bei Smartphones sind längst serienreif. Das unterstreicht nicht zuletzt der chinesische Smartphone-Hersteller vivo. Das faltbare Haupt-Display des vivo X Fold setzt auf ein flexibles Glas, das nach Veredelung hunderttausendfach gebogen werden kann, ohne zu brechen. vivo stellte 2022 einen neuen Guinness-Rekord auf und realisierte 300.000 Faltvorgängen, bei dem flexibles Ultradünnglas eine wichtige Rolle einnahm.

Aber die Glasdicke ist längst nicht das einzige, das zählt. Dünneres UTG als jetzt wird für Display-Anwendungen wohl nicht benötigt. Eigenschaften wie Flexibilität und Robustheit rücken dagegen in den Fokus. Um sie trotz begrenzter Materialdicke möglichst flexibel und robust zu machen, liegt der Schlüssel hier in der Materialzusammensetzung und dem chemischen Verfestigungsprozess.

Faltbare Displays bei Smartphones sind längst serienreif. Das unterstreicht nicht zuletzt der chinesische Smartphone-Hersteller vivo. Das faltbare Haupt-Display des vivo X Fold setzt auf ein flexibles Glas, das nach Veredelung hunderttausendfach gebogen werden kann, ohne zu brechen. vivo stellte 2022 einen neuen Guinness-Rekord auf und realisierte 300.000 Faltvorgängen, bei dem flexibles Ultradünnglas eine wichtige Rolle einnahm.

Ultra in jeder Hinsicht

SCHOTT UTG® ist das Herzstück der faltbaren Revolution auf dem Markt für Unterhaltungselektronik: Denn die Smartphones und auch andere bildschirmbasierte Geräte der Zukunft lassen sich auf- und zuklappen. Diese Innovation erfordert neue Covergläser mit einer Reihe von Eigenschaften, die das Material an die Grenze des technisch Machbaren bringen. Dafür muss das Glas ultradünn und ultraflexibel sein, sowie gleichzeitig eine hohe Stabilität aufweisen.

Ultra in jeder Hinsicht

Auch andere Geräte sollen faltbar werden

Welches Potenzial der Markt bietet, zeigt ein Blick auf eine Prognose des Statistik-Portals Statista. Demnach werden im Jahr 2024 bereits weltweit 50,1 Millionen faltbare Smartphones verkauft. Tendenz steigend. Auch Tablets und Laptops sollen „faltbar“ werden. Die ersten Modelle dazu werden bereits 2020 als Prototypen vorgestellt. Aber noch hinken hier vor allem die für die optimale Nutzung benötigten Software-Systeme etwas hinterher. Der Werkstoff Glas wäre dagegen schon heute bereit. „Wir können Glas ultradünn machen und wir wissen, welche Glastypen wir einsetzen können“, sagt Mydlak, „unsere Erfahrung in beiden Bereichen können wir kombinieren, um für Kunden die jeweils besten Lösungen zu finden.“ Das Rennen ist längst gestartet. Nächstes Etappenziel: Die Steigerung des Superlativs. Wieder einmal.

Nicht nur bei Technik-Innovationen werden Grenzen regelmäßig neu definiert. Auch der menschliche Körper überrascht immer wieder. „Ich habe gezeigt, dass es kein Limit gibt, wenn man nur will“, sagt Eliud Kipchoge nach seinem inoffiziellen Marathon-Rekordlauf. Der Kenianer bewältigt am 12. Oktober 2017 in Wien unter „Laborbedingungen“ die 42,195 Kilometer in 1:59,40 Stunden. Erstmals bleibt ein Mensch damit unter der magischen Zwei-Stunden-Marke. Unglaublich. Und es ist nur eine Frage der Zeit, wann die nächste Bestmarke fällt – im Sport ebenso wie bei Werkstoff-Innovationen.

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